
MEINE Gedanken, Ereignisse, Erfahrungen während des Weges (themengebündelt)
Anfänge
Anfangs gehe ich mit Gruppen. Es ist alles noch so ungewohnt, unsicher. Ich brauche den Halt der Mitmenschen, der Gruppe. Sich dann aber abends abzusondern zu können, allein zu sein, auch allein zu essen und Wein zu trinken, nachzudenken- ein Erlebnis, wohltuende Ruhe. Ich lese in Gilas Monika Maron, Flugasche, die Schriftstellerin, die sie in ihrem geliebten Literaturkreis vor ihrer eigenen schweren Erkrankung und Tod gelesen hat. Schön. Erinnerungen an sie, immer wieder… Ich werde beobachtet von dem jungen Mann aus dem Westerwald, dessen Tendovaginitis ich gestern behandelt habe und von seinem väterlichen Begleiter (der hat gewiss mehr als ein Auge auf den jugendlichen Adonis geworfen). Die Maron kennt er nicht… Auf Seite 108/109 finde ich ein Haar von Gila, wie eindringlich. Sie ist mir oft so nah auf dieser Pilgerreise.
Erkenntnisse unterwegs
Der Jakobsweg ist kein Zuckerschlecken.
Die letzte Stunde, die letzten Kilometer sind am schwersten.
Dies ist nicht Spanien (verewigt auf einem Lattenrost in einem Etagenbett über mir).
Pilgern ist kein Urlaub, es ist ein full-time-job.
Die Bedürfnisse pendeln sich auf einem sehr niedrigen Niveau ein.
Die dringliche Notdurft unter priesterlicher Aufsicht in der sauberen Toilette einer Sakristei erscheint demzufolge himmlisch.
Der Pilgersegen tut gut. Die Abendandachten sind erbauend.
Der Tagesablauf des Pilgers beschränkt sich auf das absolut Notwendige: Körper, Hygiene, Nahrung, Ausscheidung, Wetter angepasste Kleidung, Pflege von corpus et animus.
Freunde
Der gelbe Pfeil wird zu meinem Intimfreund. Vor allem auf wenig begangenen Nebenrouten kann ich ohne ihn sorglos pilgern. Er gibt mir die Sicherheit, auch in der Einsamkeit auf dem rechten Weg zu sein. An kritischen Stellen haben liebe Pilger Ersatzpfeile geformt: Steinpfeile auf dem Weg, Steinhäufchen auf einem Felsblock oder einfach ein Herz. Ich bin über jedes signum dankbar und sage das auch laut an.
Der zweite Intimfreund ist mein baston, der Wander- und Hunde-Abwehr-Stock, den ich in Logrono erworben und inzwischen mit einem Gummischutz am Stockende versehen habe, um weiteren verkürzenden Abnutzungen entgegenzuwirken. („Wenn Du nichts tust, gehst Du demnächst auf dem Zahnfleisch“, so ein Pilgerfreund).
Das dritte Freundespaar sind meine alpinen Wanderschuhe, die mir Halt und Sicherheit in der Bewegung geben und meine Füße vor Nässe schützen. Und dann die Füße, die mich täglich so weit tragen, unermüdlich.
Kleidung, Wäsche
Der Rucksack ist schwer. Er drückt an den Schultern, die Nackenmuskulatur wird hart und schmerzt (vor der Tragekorrektur).
Tag 14. Es ist heiß und feucht und schwitzig. Es riecht irgendwie scharf- bin ich das, meine sportlichen Mitpilger aus Austria? Ich kann es nicht identifizieren. An einem Lavendelfeld finde ich Abhilfe, und wir reiben die gewöhnlich am stärksten duftenden Köperpartien mit Lavendel ein. Abends in Carrion bei den Nonnen ist Großwaschtag angesagt: per Hand im Bottich mit warmen Wasser und Waschpulver.
Schlimm, wenn die Kleidung und die Unterwäsche trotz aller Trickse während de Nacht nicht trocknen. Morgens in die feucht-kalte Unterwäsche schlüpfen- ein Gräuel. DER Tipp einer Belgierin in Ponferada: abends mit der feuchten Wäsche schlafen gehen, die ist dann morgens trocken. Klasse!
Körper
Auf den Körper hören! Der Schmerz der Ferse und der Fußsohle bestimmt die Länge der Gesamtstrecke des Tages. Der Körper gibt das Zeichen zum Stopp, zur Pause, zur Erholung. Am Tag 10 schmerzen sie besonders schlimm. Selbst nach einer ausgiebigen Massage brennen sie elendig weiter, so dass ich tatsächlich einen Bandscheibenvorfall ausschließe und mit einem Auge auf die Arcoxia schiele. Ich habe kein einziges Schmerzmedikament auf der ganzen Pilgerreise benötigt- Selbstheilung des Körpers, eine wunderbare Erkenntnis auf der Pilgerreise
Landschaften
Die Landschaften wechseln. Sie laufen wie ein Bilderbuch an mir vorbei. Ich bin mitten darinnen. Wegen der steinigen Pfade muss ich auf den Weg achten, Kopf und Blick sind gesenkt, so dass ich die Landschaftswandlungen oft erst spät erhasche. Die Landschaft wechselt jedoch langsam, so dass ich- wenn manchmal auch erst spät- wohl alles mit bekomme.
Landschaften und Menschen begleiten mich, und Kultur und Historie.
Landschaften und Wetter nehmen keine Rücksicht auf Pilger.
In der Ebene ist die Sicht weit. Ein Dorf taucht auf. Was sehe ich zuerst? Den Wasserturm, der ist groß und dick und dann erst den Kirchturm, der ist höher aber schlank. Die Albergue liegt immer an der Kirche, und die fast immer auf dem Berg, also noch ein Weg von mindestens 45 Minuten. Und die sind die schwersten.
Nahrung
Die Basis ist trockenes Brot und Wasser und etwas Salz als Starter nach dem Aufstehen (normalerweise bietet die Albergue kein Frühstück, die muss um 08.30 sauber verlassen sein). Mit dieser Minimahlzeit wird die Zeit bis zum Öffnen der ersten Bar nach ca. 1-2 Stunden überbrückt. Dies Notration wird zur täglichen Gewohnheit- ich sorge mit dem Rest-bocadillo des gestrigen Nachmittags für die Überbrückung der 2 Stunden des folgenden frühen Morgens.
Abends gibt es für 7-9 Euro ein 3-Gang-Pilgermenue (primo plato: Salat, Suppe oder Makkaroni; secundo plato: Fisch (merluza oder trutta) oder sehr dünnes Fleisch, Spaghetti; tertio: joghurt, flan oder tarta santiago). So recht satt werde ich nie. Als mir die Hose über den Po rutscht, ohne dass ich die Knöpfe öffnen muss, weiß ich, was Sache ist.
Pilger, peregrinos
Zahlreich, weltweit; wir treffen uns immer wieder. Egal, ob der Pilger flott, ob er langsam und bedächtig geht, es scheint sich um eine geschlossenen Gesellschaft zu handeln, wie eine Ziehharmonika geht es hin und her. Ungewollt treffe ich abends viele Mitpilger wieder und wieder, manche gern, manche nicht so gern. Dennoch, sie haben alle das gleiche Ziel, das vereint sie. Viele müssen wegen der Blasen und Tendinitiden pausieren; einige steigen ganz aus wohl wegen falscher Erwartungen und Vorstellungen. Viele sind einfach kaputt und fertig, mental und körperlich.
Pilgerherbergen
Ein Muss, hier ist die ganze Welt zu hause für einen Preis von 0-9 Euro pro Bett und Nacht. Supergute Kommunikationsmöglichkeiten bei hoher – bereitschaft. Aber auch Enge, hoher Luftfeuchtigkeits -, Duft- uns Schnarchpegel (Stöpsel für die Ohren, Parfum auf die Oberlippe), niedrig dimensionierte Sanitärverhältnisse, mageres Essen, Staub, keinerlei Intimsphäre. Aber Gespräche unter Seinesgleichen. Alle haben dasselbe Ziel.
Pflanzen
Heide, Strauchheide, Ginster gelb (ein- und grobblättrig), weiß; Schlüsselblumen; Hibisken, Lavendel, Mohn, Kamille, Rosen, Lilien, Feldblumen (eine Pracht).
Lorbeer, Buchs, Eiche, Platanen, Kiefern aller Art, Zypressen, Eukalyptus, Palmen. Apfelblüten, Kirschblüten.
Radfahrer
Auf den letzten Kilometern gehäuft. Sportlich. Sie spritzen den Matsch und Kuhmist nach hinten hoch, Vorsicht, der Mist landet zu gern im Gesicht! Und sie fahren manchmal irre schnell, vor allem begab und geben spät Laut- wie oft habe ich mich in Gedanken und den Gehrhythmus vertieft über sie erschrocken!
Schmerzen
Bei fortschreitender Wanderzeit schmerzen die Schultern, das Becken und die Fersen und vor allem die Füße.
Bei fortschreitender Wandererfahrung treten die Schmerzen später auf, aber sie kommen.
Die Schmerzen unter den Füßen werden unerträglich; Belastungskorrektur hilft nur wenig; entwickeln sich Blasen oder gar eine Tendinitis oder Fascitis oder Marschfaktur??? Nach 3 Wochen brennen die Füße kaum noch, adaptiert.
Das Besondere: am jeweils nächsten Morgen hat der Körper sich voll regeneriert, er ist schmerzfrei, ich freue mich aufs Laufen, Wahnsinn. Das ist das Körpergefühl schlechthin!
Kniee: gelegentlich ein kleiner Stich, mehr nicht. Gerade das verwundert mich, ist die Belastung der Knie doch riesengroß, vor allem durch das Bergabgehen auf losen Steinen. Ebenso die der Sprunggelenke.
Schultern: massive Schmerzen des li ACG. Ich spiele tatsächlich mit dem Gedanken, einen Arzt aufzusuchen. Bis mir bewusst wird, welche Fragen er stellen würde. Also stelle ich mir diese Frage: woher rührt der Schmerz?? Endlich wird mir klar, dass ich die Schultern entlasten muss. Wie? Durch Straffung des Beckengurts- welche Erleichterung! Und zwar sofort. Dafür gibt es Druck- und Schürfstellen an den Beckenkämmen.
Statistik
Von Saint-Jean-Pied-du-Port bis Santiago de Compostela sind es 798,9 km
Die kürzeste Etappe betrug 8 km (Horrison), die längste 38 km (Leon).
Bei 29 Pilgertagen war die tägliche Etappe 27.6 km lang, mit den Umwegen 9 km.
Bei 1500 Schritten pro km betrug die Gesamtschrittzahl 1.200.000,
pro Tag 41.300 Schritte (arme Füsse).
Strapazen
Der Weg ist anstrengend. Täglich gelange ich an die körperliche Belastungsgrenze, täglich. Vor allem nach dem 38km- Marsch am Tage 10 nach Santo Domingo bin ich völlig erschöpft. Und dann ist auch noch die Municipal ausgebucht u ich muss in ein Hostal zu den Zisterzienserinnen. Aber erst der nächste Tag, ein 23km Weg nach Belrado, wird sehr, sehr schwer, hier zeigt sich die Folgen der massiven Belastung des Vortags: morgens erwische ich¨falsche carretera, tapse in ein tiefes Pfützenloch, eine Contaktlinse weint heraus (kalter schneidender Wind aus West).
Tiere
Kuckuck – ein steter Begleiter, täglich, ich erwarte in schon, bin ja früh unterwegs; Störche überall mit ihren dominierenden Nestern; Singvögel satt, Schmetterlinge; Schnecken, Frösche, Schafe, Lämmer, Kühe
Tag 27: ich rede mit einem jungen Lamm, wohl in Ermangelung weiterer
Kommunikationspartner. Vögel sind schon lange meine Ansprechpartner wie auch Schmetterlinge. Und manchmal auch Pflanzen, die ich gern berühre (Es wird wohl Zeit, nach hause zu kommen. Es stimmt, ich werde pilgemüde, schon seit einigen Tagen).
Verletzungen, Erkrankungen
Tag 22: auf dem Weg zur Wäscheleine mit bloßen Füßen in den Sandalen an Schiefersplitter verletzt: blutende Wunde aus der Haut der Großzeh, seitlich, tief, eklig, schmerzhaft. Ich bekomme richtig Angst, eine Infektion zu bekommen, die ja jegliches Weiterlaufen zunichte machen würde. Druckverband mit Bepanthen- und: erneut Selbstheilung bis auf erinnerndes Narbenkeloid. Welche Kräfte setzt der Körper frei! Der Dauerstress führt zu einem stetig erhöhten Puls, der sich auch nachts nicht beruhigt. Wie bei den Mitpilgern, alle unter Dampf.
Wasser
Drei Spanier erklären voller Stolz: aqui esta muy aqua. Stimmt: ganz Galizien hat Bäche und Flüsse satt. Überall rinnt es und plätschert. Sehr oft rauschen Wasserfälle. Häufig müssen Bäche auf Steinplatten überquert werden, einmal muss ich einen ganzen Hohlweg auf Steinplatten durchwandern. Glitschiger Balanceakt.
Aqua potabile an vielen Brunnen, vor dem Genuss kann ich nur warnen. Ich habe leichtsinnigerweise probiert und mit einem mehrtägigen Durchfall bezahlen müssen. Ich überlasse es dem geneigten Leser, sich die Erfüllung eines sich anbahnenden Wunsches des Darmes zu dessen Entleerung in Gottes freier Natur bei Regen und entsprechender Zwiebelkleidung auszumalen…
Wege
Autostrassen werden auf einem bequem zu fahrenden Höhenniveau gebaut und über und steile Strecken durch Brücken und duch Tunnels ausgeglichen. DiePilgerwege jedoch nehmen jede Schlucht, jedes Tal und jeden Bach mit- bergauf, bergab; steil und steinig. Anstrengend.
Dazu Beläge aller Art: Asphalt; steinige Wege (fest gestampft, locker, gefährlich); Lehm, feucht, schwer und glitschig- die Schuhe gleiten unkontrolliert nach allen Seiten aus; Gras, Feldränder mit Weizen und Unkraut; Pfützen, Überschwemmungen, Steinplatten über Bachläufen in Hohlwegen; feuchter und glitschiger Schlamm mit Kuhmist;
Der Rucksack steigert dazu das Körpergewicht und macht das Bergabgehen auf Steinen und feuchtem Lehm zu einem Balanceakt. Der baston ist wichtiger denn je.
Wetter
Ein echter Gegenspieler: Wolken, Regen, Nebel, Wind, Kälte, Schnee, Hagel, eisiger Westwind (3 Tage Kastilien, böiger Wind, der sogar den Stock aus der Hand schlägt, schlimm- kein Schutz für Stunden); insgesamt scheint das Wetter wie in Deutschland, nur 10 Grad kälter. Folgen: frieren, Augen tränen, Eisnase, eiskalte Hände, schwitzen, feucht-kühle Funktionsunterwäsche.
Dann wieder Milde, Sonne, Wärme, Hitze- eben alles. Heftig.
Erkenntnis (meine ganz persönliche)
Ich gehe den camino nur für mich.
Ich gehe ihn nicht für andere Menschen. Was ich tue, tue ich nur für mich. Ich gehe ihn nicht, um anderen Menschen zu gefallen, weder meiner Frau, noch der Familie, der Nachbarn, der biker und Golfer noch den Mitpilger. Es ist mein Weg. Es sind meine Gedanken, meine Emotionen, meine Erkenntnisse.
Der camino gibt mir reichlich Gelegenheit und Zeit, meinen Charakter zu erforschen. Der Weg zum Ergebnis und dasselbe an sich sind sehr spannend. Ich behalte es für mich.
Der camino fordert:
Disziplin, Durchhaltevermögen, Ausdauer, physische Kraft und Reserven, mentale Kraft und Reserven, Entbehrungen, Strapazen
Neuen Umgang mit Hunger, Durst, Ausscheidungen, Erkrankungen; Hitze, Kälte, Schwitzen, Feuchtigkeit; schlechten Schlaf- und Hygienebedingungen.
Der camino gibt:
Freude, Glück, Zufriedenheit, Selbstachtung, Anerkennung, emotionale Tiefe
Der camino macht:
Stolz, zufrieden;
nachdenklich, ernsthaft, bescheiden, dankbar, demütig vor Gott und seiner Schöpfung.
Meine Gedanken über Gott, mein Verhältnis zu Gott sind sehr intim. Diesen passus möchte ich ebenfalls für mich behalten.

WEITER GEHT´S MIT “NACH DDEM WEG”.